Niels Bohr, der legendäre dänische Physik-Nobelpreisträger, hat es früh erkannt: „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Dennoch lieben wir Menschen es, Prognosen abzugeben. Schade nur, dass wir darin hoffnungslos untalentiert sind und die Prognosequalität typischerweise zwischen schlecht und sehr schlecht pendelt. Dies gilt auch für das Gros der Finanzprofis. Gegenüber der Allgemeinheit bzw. anderen Berufsgruppen haben Finanzprofis allerdings den Vorteil, dass sich ihre Vorhersagen oft auf Wertpapiere beziehen, die täglich gehandelt und gepreist werden. Dies ermöglicht es zu ermitteln, welche zukünftigen Entwicklungen bereits in den Kursen enthalten sind. Damit lässt sich abschätzen, inwiefern ein Investment ein attraktives Chance-Risiko-Profil aufweist – ohne präzise Prognosen über die Zukunft machen zu müssen.
Hohes Mass an Kalkulierbarkeit
Es gibt wohl kaum eine Anlageklasse, die sich hierfür besser eignet als Anleihen. Grund hierfür sind die fixierten CashFlows (Kupons und Rückzahlungsbetrag), welche im Gegensatz zu Aktien ein deutlich höheres Maß an Kalkulierbarkeit ermöglichen. Die Rendite einer (Unternehmens-)Anleihe besteht aus zwei Komponenten: Basiszins und Credit Spread. Der Credit Spread ist der Zinsaufschlag, den Investoren verlangen, um das mögliche Insolvenzrisiko („Default Risk“) des Emittenten zu übernehmen. Wenn eine in Euro denominierte 1-jährige Anleihe der Firma A eine 8%-ige Endfälligkeitsrendite aufweist und die 1-jährige Bundesanleihe (de-facto das risikofreie Asset in der Eurozone) eine 2%-ige Fälligkeitsrendite („Basiszins“), bedeutet dies, dass der Credit Spread des besagten Corporate Bonds bei 6% liegt. Mit dieser Information lässt sich dann die vom Markt, also von der Investoren-Community, eingepreiste implizite Ausfallwahrscheinlichkeit („Implied Default Rate“) ermitteln. Wenn Investoren 6% Credit Spread für eine 1-jährige Anlage verlangen, müsste dies im Prinzip bedeuten, dass sie für die kommenden zwölf Monate für die Firma A eine 6%-ige Ausfallwahrscheinlichkeit unterstellen.1 Allerdings ist dies nur auf den ersten Blick korrekt. Geht ein Unternehmen nämlich Pleite, stehen die Anleihegläubiger nicht zwangsläufig mit null da. Die Firma A hat vermutlich noch Vermögenswerte, die der Insolvenzverwalter im Falle eines Defaults verkaufen würde. Damit könnte ein Teil der Anleihe zurückgezahlt werden. Im langfristigen historischen Durchschnitt beträgt diese sogenannte „Recovery Rate“ bei High Yield Bonds ca. 40%. Das bedeutet, dass Anleihegläubiger im Falle eines Defaults nicht 100%, sondern im Mittel nur 60% des Nominalwerts verlieren. Wenn die Investoren 6% Credit Spread verlangen, um für einen potenziellen Verlust von 60% kompensiert zu werden, dann rechnen sie mit einer Auswahlwahrscheinlichkeit der Firma A über die kommenden 12 Monate von 10% (6 / 60 = 10%) (Es handelt sich um eine vereinfachte Berechnung und nur gültig für niedrige Credit Spreads. Für höhere Credit Spreads überschätzt die vereinfachte Berechnung die tatsächlichen Ausfallwahrscheinlichkeiten - desto höher der Credit Spread, desto höher die Überschätzung. Die Logik, auf der die vereinfachte Berechnung basiert, ist im Grunde dieselbe für die komplexere, genauere Berechnung).
Der Umweg über die Versicherungsprämie
Dieselbe Logik kann auch auf sogenannte Credit Default Swaps (CDS) angewendet werden. CDS sind derivative Kontrakte, die als Versicherungen gegen die Insolvenz einer Firma dienen. Ein CDS garantiert, dass Anleihegläubiger den Nominalwert einer Anleihe zurückgezahlt bekommen, wenn der Emittent in der Zwischenzeit zahlungsunfähig wird. Der Kurs eines CDS notiert in Basispunkten (bps). Wenn der 1-jährige CDS für Firma A mit 600 bps notiert, müssen Investoren also einen Betrag in Höhe von 6% des Nominalwerts der Anleihe bezahlen, um sich gegen die Insolvenz zu versichern. Beträgt die Recovery Rate einer Anleihe im Insolvenzfall 40%, folgt daraus, dass CDS Investoren auch hier mit einer impliziten Auswahlwahrscheinlichkeit der Firma A über die kommenden zwölf Monate von 10% rechnen (6 / 60 = 10%). Auf Basis des Preises eines 1-jährigen CDS lässt sich also die eingepreiste implizite Ausfallwahrscheinlichkeit eines Anleiheemittenten mit folgender (leicht vereinfachter) Formel berechnen:

Credit Default Swaps werden aber nicht nur für einzelne Emittenten gehandelt, sondern es gibt auch CDS-Indizes (äquivalent zu Anleiheindizes), inklusive Indizes für High Yield Anleihen. Der 5-jährige CDS für den europäischen HY-Markt (5-jährige CDS auf den Markit iTraxx Europe Crossover Index) notiert aktuell bei 500 bps. Damit ist implizit eine kumulierte 5-jährige Auswahlwahrscheinlichkeit von 35% für den europäischen HY-Markt eingepreist (Annahme: durchschnittliche Recovery Rate = 40%). Die Marktteilnehmer erwarten also, dass 35% der europäischen Firmen mit ausstehenden High Yield Anleihen in den nächsten fünf Jahren zahlungsunfähig werden. Präziser gesagt: 35% des ausstehenden Volumens europäischer HY-Anleihen wird in den nächsten fünf Jahren in den sog. „Default“ gehen. Seit der Gründung des europäischen HY-Marktes 1998 war das „dunkelste“ fünfjährige Zeitfenster für Insolvenzen die Periode 2007-2011. Diese fünf Jahre beinhalten die Auswirkungen der Finanzkrise 2008/09 und der Eurokrise. Die kumulierte Ausfallrate erreichte damals knapp 13,5% des gesamten ausstehenden HY-Anleihevolumens. Momentan wird also eingepreist, dass über die nächsten fünf Jahre die Insolvenzrate im europäischen HY-Markt 2,7-mal höher ausfallen wird als während der Finanzkrise und Eurokrise zusammen. Diese Unterstellung scheint im historischen Kontext doch stark übertrieben zu sein, wie auch eine andere Betrachtungsweise zeigt.

Positive Erträge auch bei 33% Ausfallrate
Der durchschnittliche Credit Spread im europäischen HY-Markt ist momentan so hoch, dass für Anleger, die mittels eines HY-ETFs den kompletten Markt kaufen, selbst bei einer kumulierten Ausfallrate von 35% über die nächsten fünf Jahre keine Verluste anfallen würden. Stattdessen würden diese Investoren immer noch so viel verdienen, wie mit dem heutigen Kauf einer 5-jährigen Bundesanleihe, nämlich ca. 2,2% per annum. Zwar würde der Credit Spread der High Yield Anleihen von den Insolvenzen „aufgefressen“ werden, nicht aber der Basiszins. Damit die Performance bei null liegt, müsste die Insolvenzrate im HY-Markt über die nächsten fünf Jahre sogar bei über 45% liegen. Die Endfälligkeitsrendite im breiten europäischen HY-Markt, gemessen am ICE BofA Euro HY Index, beträgt aktuell 7,9%. Der Index weist eine durchschnittliche Duration von 2,9 auf. Das bedeutet, dass im HY-Markt definitiv zu viel Negatives eingepreist ist. Ende September 2022, als der 5-jährige CDS zeitweise über 650 bps notierte, lag die implizite kumulierte Ausfallrate für die folgenden fünf Jahren sogar bei über 40%.

Eine mögliche Erklärung der Daten könnte darin liegen, dass die Risikoaversion der Anleger im High Yield Markt momentan einfach sehr groß ist. Es herrscht Angst vor einer Rezession, verbunden mit einer Pleitewelle. Und genau dies macht den HY-Markt äußerst attraktiv, denn die besten Investitionen haben eine Eigenschaft, die im HY-Markt aktuell vorhanden ist: Sie sind typischerweise analytisch leicht zu erfassen, emotional aber schwierig umzusetzen, da man in solchen Situationen relativ einsam ist und die streng datenbasierte Meinung nur von wenigen anderen Investoren geteilt wird. Würde allerdings die Mehrheit der Investoren ihr Bauchgefühl ausschalten, die damit verbundene hohe Risikoaversion über Bord werfen und das gute Chance-Risiko-Profil erkennen, das die CDS-basierte Analyse des High Yield Marktes offenbart, würde sich diese Opportunität schnell in Luft auflösen. Dabei bedarf es keinerlei großartig präzisen Prognosen über die Zukunft, um zu diesem Schluss zu kommen. Man muss lediglich ermitteln, welche Risiken bereits in den Kursen eingepreist sind und sich etwas mit der Historie beschäftigen. Würde Niels Bohr noch leben kann man sich seine Reaktion gut vorstellen: „This is pure intellectual beauty! What is there not to like?“